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Nach der Präsidentschaftswahl: Massive Repression in Weißrussland

Der alte und neue Staatspräsident von Belarus: Alexander Lukaschenko.
Bild: Kreml. Lizenz: Creative Commons BY 3.0. Original: kremlin.ru.

3. Januar 2011
Von Marieluise Beck, MdB
Von Marieluise Beck, MdB

Treffen mit unabhängigen Journalisten

Derzeit sind 26 Journalisten verhaftet und z.T. auch schon in Kurzprozessen verurteilt, 21 Journalisten sind hart physisch angegangen worden. Das offensichtliche Ziel sei die Einschüchterung und der Versuch, jede kritische Berichterstattung zu unterdrücken. Lukaschenko verfolge das Ziel, Belarus in eine Informationsisolation zu treiben.

Niemand findet Verständnis für die Passivität der OSZE. Der Vertreter von Narodnaja Wolja äußerte mit einiger Bitterkeit, dass er nun das Treffen zu verlassen habe, denn in 50 Minuten beginne sein Verhör vor dem KGB.

Inrina Chalip, die Frau des Oppositionskandidaten Andrei Sannikow, die u.a. für die Nowaja Gazeta in Moskau arbeitete, ist nach wie vor in den Händen des KGB. Es gebe keinen Kontakt zu ihr.

Die Verhaftungen gingen auch derzeit im großen Stil weiter. Erinnert wurde noch einmal daran, dass es nach wie vor keinerlei Aufklärung über die vier Verschwundenen aus dem Jahr 1999 und 2000 gebe, unter denen auch ein Journalist war. Es stelle sich die Frage, ob der Westen tatsächlich in diesen Fällen beim Tabuisieren dieser zu vermuteten Morde bleiben wolle und von der Forderung nach einer internationalen Untersuchung dieser Verbrechen von 1999 und 2000 absehe.

Das Treffen war bestimmt von der großen Enttäuschung, dass der Westen die unfassbare Brutalität und die fast vollständige Zerschlagung jeglicher Opposition so gleichmütig hinnehme. Ich musste mich fragen lassen, wie lange der Westen weiterhin so tun wolle, als könne man zur Tagesordnung übergehen und ob sie denn tatsächlich mit keinerlei Schutz zu rechnen hätten.

Nachtrag vom 29. Dezember 2010: Eine Tag nach meiner Abreise wurde die Redaktion der Tageszeitung Nascha Niwa vom KGB durchsucht, die technische Ausstattung beschlagnahmt und das Büro geschlossen. Die Zeitschrift wird ab sofort nicht mehr erscheinen können. Nascha Niwa war neben Narodnaja Wolja, die einzige unabhängige Tageszeitung, die durch den staatlichen Zeitungsvertrieb verteilt wurde. Daneben war die Internetseite der Zeitung eines der wichtigsten unabhängigen Nachrichtenportale des Landes. Mit dem Übergriff auf Nascha Niwa wird die unabhängige Berichterstattung aus Belarus im Sinne einer Informationsisolation weiter massiv eingeschränkt.

Treffen mit Vertretern von Parteien und NGOs

Wiktor Kornejenko, stv. Vorsitzender der Bewegung "Für Freiheit" (von Alexandr Milinkewitsch), Koordinator der Initiative "Für faire Wahlen", Sergej Kaljakin, Vorsitzender der Belarussischen Partei der Linken "Gerechte Welt", Koordinator der Initiative "Für faire Wahlen", Raissa Michailowskaja, Leiterin des Menschenrechtszentrums Minsk, Juristin, Vertrauensperson des Präsidentschaftskandidaten Wladimir Nekljajew (übrigens auch von Alexandr Kosulin), Lew Margolin, stv. Vorsitzender der Vereinigten Bürgerpartei (OGP) von Anatoli Lebedko, Vertrauensperson des Präsidentschaftskandidaten Jaroslaw Romantschuk, Olga Karatsch, "Nasch Dom" + "Witebski kurjer" + Mitglied des Politischen Rats der Vereinigten Bürgerpartei/OGP von Anatoli Lebedko, Alexej Janukewitsch, Vorsitzender der Belarussischen Volksfront (BNF), Vertrauensperson des Präsidentschaftskandidaten Grigori Kostussjow, Georgi Dmitruk, Ko-Vorsitzender der "Belarussischen Christlichen Demokratie" (BCD), Vertrauensperson des Präsidentschaftskandidaten Witali Rymascheski, Stanislaw Schuschkewitsch, Vors. der Belarussischen Sozialdemokratischen Gramada, erstes Staatsoberhaupt Weißrusslands nach der Unabhängigkeit, Dmitri Kutschuk, Wahlkampfmanager der Belarussischen Partei "Die Grünen, Alexandr Lahutsenak, Parteimanager der Belarussischen Partei "Die Grünen“

Ich hatte mit der Botschaft erörtert, ob ein Treffen von Oppositionellen mit einer Abgeordneten aus dem Westen die Menschen eher gefährden oder schützen würde. Die Vertreter entschieden selbst und kamen – Kontakt nach außen scheint für sie derzeit fast die einzige Hoffnung zu sein. Die Zerschlagung jeglicher oppositioneller Strukturen geht weiter.

Ich traf nur noch wenige bekannte Gesichter. Die erste Reihe der Parteien und der NGOs befindet sich bereits in Haft. Dazu gehören bei den Parteien vor allem ihre Präsidentschaftskandidaten.

Alle Aussagen sind verwendbar – mit einem gewissen Galgenhumor wurde angemerkt, dass wir uns sowieso nicht der Illusion hingeben sollten, unser Gespräch sei geheim geblieben.

Ich möchte noch einmal auf die Besonnenheit und Ruhe aller Teilnehmer hinweisen, die mich sehr beeindruckt hat. Keine wüsten Spekulationen, keine sektiererischen Verstiegenheiten, sondern vor allem Ernsthaftigkeit. Das ist wichtig, wenn die Belastbarkeit der Informationen zu bewerten ist.

Alle Teilnehmer betonten, dass die Protestdemonstration auf dem Oktoberplatz vollkommen friedlich gewesen sei. Alle Verantwortlichen hätten eindeutig zur Gewaltlosigkeit des Protestes aufgerufen. Vor allem auch die Kandidaten, von denen jedoch Neklajew die Demonstration gar nicht mehr habe erreichen können, weil er aus dem Auto herausgeholt und zusammengeschlagen worden sei. Auch die Demonstration über den Unabhängigkeitsprospekt auf dem Weg zum Unabhängigkeitsplatz sei vollkommen friedlich gewesen. Die Menge war vollständig unbewaffnet. Es gab keine Polizei und auch keine vergitterten Polizeiwagen.

Das Regierungs- und Parlamentsgebäude sei verbarrikadiert gewesen. Etwa 8 bis 10 Personen hätten dann aus der ersten Reihe heraus die Scheiben des Regierungsgebäudes eingeworfen. Diese Personen seien von der Polizei nicht verhaftet worden. Im Gegenteil, ein Vertreter der belarussischen Volksfront sei von den Sondereinheiten verprügelt worden, als er die Gewalttäter habe zurückhalten wollen. Es lägen Videoaufnahmen vor, die die These der von der Staatsmacht gelenkten Provokation belegen würden (auf den Internetseiten der NGOs wie Charter'97). Der Einsatz sei offensichtlich vorbereitet gewesen. Lukaschenko selber habe sich die ganze Zeit im Lagezentrum aufgehalten.

Die Gewalttätigkeiten seien zum Anlass genommen worden, die Menschen auf dem Platz förmlich zu jagen. Eine junge Mitarbeiterin von „Nasch Dom“ habe einen Eileiterriss erlitten. Die Brutalität der Sondereinheiten sei grenzenlos gewesen. Es werde derzeit von ca. 700 Verhafteten ausgegangen.

Es wurde weitgehende die Einschätzung vertreten, dass Lukaschenko bei diesen Wahlen sehr empfindliche Einbußen habe hinnehmen müssen, vielleicht habe er sogar die für die Vermeidung einer zweiten Wahlrunde nötige absolute Mehrheit verloren. Die etwa 1.000 Wahlhelfer aus den 248 Wahlkreisen, die bei der Initiative „Für faire Wahlen“ vor Ort waren, seien zwar fast alle daran gehindert worden, an den Auszählungen teilzunehmen. Es habe allerdings eine Umfrage des Moskauer Technologiezentrums „Exit-Side“ gegeben, das 5.000 Menschen in den fünf großen weißrussischen Städten befragt habe. Laut deren Ergebnis habe Lukaschenko lediglich 38,6 Prozent, die Oppositionskandidaten zusammen 43,2 Prozent erhalten.

Allgemein wurde davon ausgegangen, dass das brutale Vorgehen gegen Regimekritiker einer geradezu hysterischen Reaktion Lukaschenkos zu schulden sei, der seine Machtbasis schwinden sehe. (Hierzu passt die Information, dass diejenigen im Präsidialamt, die für den Kurs der Westöffnung und Liberalisierung plädiert haben, nun unter starken Druck geraten sein sollen). Lukaschenko sei dabei, eine vollständige Zerschlagung jeglicher Kritik, Widerstand und Eigenständigkeit des Denkens vorzunehmen, um sich seine Macht auf Dauer zu sichern.

Zu den 23 Verhafteten, die nach wie vor der KGB gefangen halte, habe es seit Tagen keinen Kontakt gegeben. Neklajew, der mit einem Schädelbasisbruch von Sondereinheiten aus einem Krankenhaus entführt worden sei, hätten seine Anwälte am 27. Dezember, also acht Tage nach seiner Verhaftung, zum ersten Mal sehen können. Durch Folter und Androhung von Konsequenzen für die Familien seien dem Oppositionskandidaten Romantschuk und Kostusew Selbstbezichtigungen und Beschuldigungen der anderen Kandidaten abgepresst worden. Romantschuk habe das inzwischen öffentlich zugegeben.

Es sei zu befürchten, dass Lukaschenko einen persönlichen Rachefeldzug gegen Anatoli Lebedko führe, der ihm schon lange ein Dorn im Auge sei. Der sei an den Demos gar nicht beteiligt gewesen, aber die Sondereinheiten hätten seine Wohnungstür eingetreten, ihn misshandelt und verhaftet. Der sei seit neun Tagen in Haft im Hungerstreik.

Der Anwalt von A. Sannikov wird mir später erzählen, dass er seinen Mandanten am 20. Dezember das letzte Mal habe sehen können. Er war so stark verletzt, dass er kaum habe sprechen können und habe starke Schmerzen. Der Anwalt geht auch hier von einem Schädelbasisbruch neben anderen Verletzungen aus. Er wies weiterhin darauf hin, dass das Kind von Sannikow und der verhafteten Irina Chalip zwar noch bei der Großmutter sei, das Jugendamt allerdings schon vorstellig geworden sei und damit gerechnet werden müsse, dass unter dem Vorwand, die Großmutter sei nicht mehr belastbar genug, das Kind entzogen und im Kinderheim unter Staatsaufsicht gestellt werden solle.

Es wird vermutet, dass die Kandidaten auch deshalb ohne jeglichen Außenkontakt vom KGB festgehalten würden, damit die Fristen für eine Wahlanfechtung beim Obersten Gericht von Weißrussland verstrichen seien, bevor sie einen Widerspruch einreichen könnten. Immerhin habe Kostusow noch eine Stunde vor Ablauf der Frist ein Konvolut mit einer auf 38 Seiten begründeten Einspruch gegen die Wahlen einreichen können, mit einer Anlage von 333 Seiten, auf denen Wahlverstöße aufgeführt seien. Die seien alle an einem Tag (!) abgearbeitet und abgelehnt worden.

Bis zum 30. Dezember müssten die Anklagen gegen die Kandidaten in den KGB-Gefängnissen fertig sein. Es werde vom Regime Klagen gegen die Kandidaten nach Paragraphen 293 (Aufruf zum Aufruhr) vorbereite, was mit 15 Jahren Haft geahndet werden könne. Eine Juristin vor Ort äußerte allerdings die Vermutung, dass die beiden prominentesten Kandidaten, Niklajew und Sannikow, sich mit einer noch schärferen Anklage konfrontiert sehen könnten, nämlich dem Aufruhr zum Staatsumsturz. Darauf stehe die Todesstrafe. Die massenhaften Verhaftungen und Verhöre, die derzeit auch die Menschen träfen, die gar nichts mit den Demonstrationen zu tun gehabt hätten, seien im Zusammenhang der Vorbereitung derart solch konstruierter Anklagen zu sehen. Der 30. Dezember ist also ein entscheidendes Datum.

Noch nie sei der Druck auf die Bevölkerung im Umfeld der Wahlen so groß gewesen wie dieses Mal. In den Betrieben, in den Universitäten und beim Militär sei die Menschen zur Vorzeitigen Stimmabgabe genötigt worden. Massiver Druck werde auch jetzt auf diejenigen ausgeübt, die den Kandidaten beim Sammeln der Unterschriften für die Zulassung zu den Wahlen ihren Namen gegeben hätten.

Derzeit laufe im Fernsehen eine massive Medienkampagne, in der verletzte Sicherheitskräfte gezeigt würden, um die Brutalität der Protestierenden zu dokumentieren. Diese seien allerdings Ordnungskräfte aus der Provinz, die in Zivil eingesetzt waren und dann von den Minsker Sicherheitskräften irrtümlicherweise getroffen worden seien.

Es sei extrem wichtig, wie die internationale Reaktion auf dieses Vorgehen ausfalle. Es müsse verhindert werden, dass es zu Anklagen nach § 293 (Aufruhr) komme. Schließlich habe der Westen die Vorgaben für angebliche freie Wahlen mit dem Regime verhandelt. Nun werde vom Regime Staatsterror ausgeübt und der Westen verhalte sich zurückhaltend.

Alle schilderten, dass die Solidarität in der Bevölkerung mit den Verhafteten sehr groß sei. Ungefragt kämen Menschen und brächten warme Kleidung und Geldspenden. Zugleich sei die Bevölkerung auch sehr gespalten. Ein Teil beschimpfe die Dissidenten als Verräter an der Nation. Die Telefone klingelten ständig. Man wisse aber nie, ob nun Unterstützung oder Beleidigungen ausgesprochen würden.

Es sei zum Schluss darauf hingewiesen, dass die Beteiligten auf einen Artikel von Westerwelle, Sikorski, Schwarzenberg und Bildt vom 23.12. aus der New York Times hinwiesen, der eine Position beschreibe, die der EU gut anstehen würde.